Über Jahrmillionen lebten wir im Einklang mit der Natur und ihren Rhythmen.
Irgendwann in den letzten 6.000 Jahren haben wir der Grundlage unserer Existenz
den Rücken zugekehrt und uns zunehmend über sie hinweg gesetzt. Seit etwa dem
Jahr 2000 der modernen Zeitgeschichte dreht ein vielversprechendes Wort bisherige
Erziehungsmaßnahmen auf den Kopf und soll uns zu unserer Natürlichkeit und liebevollen
Miteinander zurückführen:
Wildnispädagogik
Die Pädagogik1, als eigenständige Disziplin, befasst sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts mit der wissenschaftlichen Betrachtung von Erziehung. An deutschen Universitäten kann man das Hauptfach mit dem Diplom, oder Magister abschließend belegen. Mit gut 25 verschiedenen Teildisziplinen ist sie das zweitgrößte Fach an den Unis. Allerdings weist der Ausdruck paidagogos im antiken Griechenland weniger auf einen ausgebildeten Erzieher, als vielmehr auf einen Knaben beaufsichtigenden Sklaven hin.
Da dies alles auf einen langen, tiefgreifenden Entwicklungsprozess hinweist, stellt sich nun die Frage, wie sich der Begriff „Wildnis“ dazu gesellt hat? Die Wissenschaft seziert gerne alles auf das Feinste, um es dann in logischen Portionen wieder nutzbar zurück zu geben. Im Falle der Erziehung ist dieser Aspekt nicht mit der Kindheit abgeschlossen. Außerdem wird hier versucht den Menschen in seiner zwangsweise moderner werdenden Welt voran zu treiben und gefügig zu machen.
Wilder Frieden
Wildnis versteht sich schnell als rückbesinnend, naturverbunden, oder auch fremd und angstbesetzt, da zivilisationsfern. Was bedeutet(e) das Aufwachsen, oder Erziehung für einen Wilden? Selbst mit dem heutigen Abstand zu echter Wildnis kann man sich vorstellen, dass ein Überleben nur funktioniert, wenn man mit der Natur und deren Rhythmen lebt. Nur mit offenen Sinnen und dem Spüren mit wachsender Intuition kann man ausserhalb bestimmter Komfortzonen bestehen.
Man muss sich also mit der eigenen Umwelt auseinandersetzen und mit den Mitmenschen gemeinsam Kräfte organisieren, um auch schwere Zeiten zu überstehen. In wie weit der stetige Kampf in heutigen Darstellungen tatsächlich Urtrieben entspringt, oder wir vor allem zu frühesten Zeiten noch das friedvolle Miteinander gepflegt haben, bleibt Spekulation. Schenkt man aber Forschern Glaube, die die letzten abgeschiedenen, indigenen Völker begleitet haben, so spricht wahre Natürlichkeit für Frieden!
Einheimisch auf der Erde
Es ist mindestens 6.000 Jahre her, dass wir angefangen haben uns zivilisatorisch abzukapseln. In Folge aller Errungenschaften leben wir in der Illusion, weitestgehend unabhängig von den Gesetzen der Natur zu sein. Millionen Jahre altes Wissen geht verloren, im Irrglauben dieses nicht mehr zu benötigen.
Wie oben bereits erwähnt schwingt bei dem Wort Wildnis eine Angst mit, da die Natur so als fremd, unkontrollierbar und feindlich betitelt wird. Die Folgen sind vielfältig und offensichtlich: Wir zerstören unseren eigenen Lebensraum, vergiften unser Essen mit Pestiziden und Hormonen, leiden unter einer Vielzahl ständig neuer psychischer und physischer Krankheiten, flüchten uns in Süchte und Ersatzbefriedigungen und haben selten eine wirkliche Lebensaufgabe.
Wer versucht für eine kurze Zeit in der Natur zu leben, dort heimisch zu werden, sich von ihr ernähren zu lassen und sich ihren Einflüssen öffnet, wird dabei eine erstaunliche Entdeckung machen. Alles kommt an die Oberfläche, was er in seinem alltäglichen Leben verdrängt. Von unterdrückten Gefühlen bis hin zu seelischen Störungen. Krankheit, Leiden und Gewohnheiten verändern sich plötzlich, um dann zu verschwinden. Kehrt man in die Zivilisation zurück, geht alles wieder seinen gewohnten Gang.
Trotz unserer scheinbaren Unabhängigkeit, zeigt uns die Natur, welch ungeheure Kraft und Einfluß sie auf unser tägliches Leben und Wohlbefinden hat. Wenn wir uns in der Gesellschaft wirklich weiterentwickeln wollen, brauchen wir dieses uralte Wissen über die Natur, um es wieder in unser Leben integrieren und Einheimische auf unserem eigenen Planeten zu werden. Dies zu erreichen ist die Aufgabe der Wildnispädagogik
Altes wissen bewahren
Stalking Wolf vom Stamm der Lipan-Apachen, wuchs um 1875 außerhalb von Reservaten in den Bergen des nördlichen Mexiko auf. Die Kultur und Lebensweisen seines Volkes prägten ihn als Schamane und Scout. Mit 20 Jahren zog er quer durch den Norden Amerikas, um das alte Wissen der Naturvölker, die im Einklang mit der Erde leben, zu erkunden. Das Leben der modernen Welt hatte er niemals kennengelernt. Im Alter von 83 Jahren traf er den Jungen, Tom Brown Jr, dem er sein Wissen nach Art des ‘Coyote Teachings‘ – Lernen durch Erfahrung - vermittelte. Altes Wissen und Kulturen sollten der modernen Welt zuteil werden, um einen positiven Einfluss auf die Menschheitsentwicklung zu nehmen.
Ursprung der Wildnispädagogik
Tom Brown Junior gilt als einer der Gründerväter der Wildnispädagogik und gehört zu den bedeutendsten amerikanischen Wildnis- und Survivalehrer, Fährtenleser und Wildnisautoren. Er wurde von seinem 7. Lebensjahr an, 20 Jahre lang, von Stalking Wolf, in der Kunst als ‘Einheimischer‘ in der Natur zu leben, unterrichtet. Anschließend wanderte er weitere 10 Jahre in den Wäldern Nordamerikas umher und vertiefte sein Wissen und seine Fähigkeiten, meist nicht einmal mit einem Messer ausgestattet.
Nachdem er vergeblich versucht hatte Menschen zu finden, denen er sein Wissen und Können weitergeben konnte, begann er zunächst seine Fähigkeiten im Spurenlesen einzusetzen, um vermisste Personen zu finden, was ihn unter dem Namen „The Tracker“ („Der Fährtenleser“) bekannt machte. In dieser Zeit löste er mehr als 600 Mordund Vermisstenfälle auf.
Mit der Veröffentlichung des ersten Buches über seine Erfahrungen als Fährtenleser begann sein Interesse zur Gründung einer Tracking-School, die zur größten Wildnisschule heranwuchs. Es folgten 15 Bücher zu Themen über Wildnis, Survival, Naturwahrnehmung und Lebensvision, die weltweit über eine Million Mal verkauft wurden.
Zusammen mit seinem ersten Schüler, John Young, entwickelte Tom Browns die Wildnispädagogik und machte sie international bekannt. Bei uns war die Zeit für den Begriff erstmals 2002 reif, als Gerhard Trommer ihn in einer Fachpublikation
benutzte. Der Ausdruck selbst ist kaum 15 Jahre alt und präsentiert ein neues Verständnis zwischen „Survival- Training“ und „Begegnung mit der Natur“.
Zwischen Survival, Kindergarten und Besinnung
Auch wenn es keine einheitliche Ausbildung zum Wildnispädagogen gibt, ist die Basis recht klar: Zurück zur Natur und im Einklang leben - auch zwischenmenschlich. Kindergärten, Schulen, sowie diverse Lehrgänge nutzen verschiedene Konzepte, um den Teilnehmern die Natur wieder vertrauter zu machen. Hier finden sich Angebote die vom Überlebenstraining fernab der Moderne, bis zum einfachen Stadtparkspaziergang reichen. Das Problem, dass es zu überbrücken gilt: Die Hürde zwischen absoluter Naturkunde und Leben in der Zivilisation ist einfach groß. Dazu fehlen beinahe global echte indigene Kulturen, von denen man noch unverfälscht lernen könnte. Die angewandten und vermittelten Inhalte sind aber kraftvolle Mittel, um erste Schritte mit tiefsitzenden Erfahrungen zu verankern.
Wilde Kinder in der Wildnis
Beobachtet man v.a. Kinder in der Natur(-camps), so fallen bestimmte Themen aufgrund deren offenem Umgang auf. Oftmals teilt sich das Lager in zwei Hälften. Die einen brauchen Führung, wie sie es aus der Schule kennen und wissen kaum etwas mit sich anzufangen. Die anderen wissen sich vor lauter neu gewonnener Freiheit kaum zu bremsen. Beide etwas geleitet stoßen sie schnell auf ihre Kreativität, die scheinbar ganz von alleine kommt.
In aller „Einfachheit“, ohne vorgegebene Spielsets und Konsolen, entwickelt sich das eigene Schaffen. Geduld ist hier ein wichtiger Lernprozess, der zum Schluss hin mit einer gehörigen Portion Stolz belohnt wird, wenn das Ziel zufriedenstellend
erreicht wurde. Sind die betreuenden Personen bereits in ihrer Erfahrung soweit geerdet, dass sie die energische Lage einschätzen können, so freuen sich die Kinder auch über Werkzeuge und Messer für größere Projekte.
Beispiel: Holzlöffel herstellen. Ein Glutstück aus einem Feuer wird zwischen zwei kantige Holzstücke geklemmt. Durch Luft einblasen wird langsam eine Vertiefung eingekokelt. Mit verfügbarem Werkzeug wird dann nach und nach ein Löffel aus dem Holz geschnitten. Keine Frage, dass das Spiel mit der Glut anfangs den größten Spaß macht. Wer aber Ausdauer beweist und sich in der Handwerkskunst übt, wird ein Wildnisgesellenstück herstellen, das gewiss weit mehr Achtung erhält, als alle anderen Löffel in der gesamten Stadt zusammen!
Und schon ist man etwas näher an der natürlichen Welt und seinen eigenen Wurzeln.
1 griech.: pais ‚Knabe, Kind‘ und ágein ‚führen, leiten‘