Die dunkle und die helle Seite: Diagnose (nach ICD-10)
SALVE-Ausgabe Herbst 2015

Die dunkle und die helle Seite: Diagnose (nach ICD-10)

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Grundlage einer jeden Therapie gibt die Diagnose vor. Auf nachvollziehbaren Erkenntnissen basierend werden entsprechende Schritte zur Linderung oder Heilung vollzogen. Leider verkommt dieses noble Ideal in Klassifikationen vielerorts zu Abrechnungsmodellen, in der der Mensch zur Nummer wird.

Eine Diagnose zu stellen und auf deren Basis zu therapieren, ist in der BRD dem Arzt oder Heilpraktiker vorbehalten. Das Wort stammt aus den griechischen Wortteilen ‚dia-‘ durch und ‚gnosis‘ Erkenntnis, was sich auf die gewonnene Erkenntnis durch gründliche Erhebung von Befunden bezieht. Die einzelnen Befunde werden heutzutage meist technisch durch Apparate gewonnen. Besonders der Naturheilkunde ist die Anamnese, das Gespräch mit dem Patienten, dabei sehr wichtig, was das subjektive Empfinden in den Mittelpunkt stellt. Körperliche Untersuchungen folgen der Beschreibung und dann der Einschätzung des Therapeuten. Sogenannte Heilhilfsberufe (modern: Gesundheitsfachberufe), wie z.B. Physiotherapeuten dürfen demnach im Auftrag durch den Arzt Befunde erstellen. Ziel ist es also, durch sammeln und auswerten verschiedener Befunde (auch chemisch, labortechnisch) ein möglichst detailliertes Bild zu erhalten, um dann eine Therapie einzuleiten, die dem Betroffenen die besten Aussichten bereit hält.
Man kann dabei noch verschiedene Diagnosen unterscheiden: Liegen keine absolut eindeutigen Ergebnisse vor, spricht man erst einmal von einer Verdachtsdiagnose. Wenn dabei bereits eine Therapie eingeleitet wird, kann aufgrund deren Ansprechbarkeit auch eine Diagnose „ex juvantibus“ gestellt werden. Kann man dem Kind keinen eindeutigen Namen geben, so werden Ausschlussdiagnosen heran
gezogen, um sicher zu gehen, was es NICHT ist. Die Differentialdiagnose (DD) beschreibt in Frage kommende Diagnosen, die zu den Befunden passen. Liegt man völlig daneben, spricht man von der Fehldiagnose.
Wie oben angedeutet unterscheidet sich die „wissenschaftliche“ Hochschulmethodik, die sich selbst als „Evidenzbasierte Medizin“ betitelt, von der Naturheilkunde und derer „Hilfsdiagnosemethoden“. Während letztere noch menschliche Züge wertschätzt und damit auch eine Vielfalt an individuellen Diagnosen zulässt, bemüht sich die Schulmedizin um internationale Klassifikation. Das wichtigste weltweit
anerkannte System wird von der WHO ausgegeben und ist ICD: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. Aktuell ist ICD-10 der neueste, angewendete Standard. Vertragsärzte („Kassenärzte“) sind dazu verpflichtet sich nach diesem System zu richten. Während Privatärzte und Heilpraktiker sich offen dem annehmen, was ihnen begegnet, muss im Krankenkassensystem der Patient in eine vorgefertigte Schublade passen, damit abgerechnet werden kann. Bedingter Vorteil an dieser Vorgehensweise ist, dass der Arzt in Timbuktu anhand der
Numerierung sofort weiß, was der Kollege in New York diagnostiziert hat. Dies hindert jedoch bekannterweise nicht daran, die eigenen Apparate erneut in Betrieb zu nehmen.

Eigentlich unterliegen gerade die Heilberufe der Schweigepflicht. Nun ist es aber verpflichtend bei jeder Abrechnung mit einer Krankenkasse eine Diagnose anzugeben. Egal ob kodiert nach ICD oder ausgeschriebene Worte, wandern diese empfindlichen Daten durch viele Hände, um letztendlich in den Computersystemen zu landen und gesammelt zu werden. Bei Wechsel der Kasse, Antrag auf irgendwelche größeren Leistungen (Invalidenrente etc.) wird man schnell in die Verlegenheit geraten behandelnde Therapeuten und (frühere) Kassen von der Schweigepflicht zu befreien und „gläsern“ da zu stehen. Arzt und Heilpraktiker dürfen sich ggf. ebenso offen über den Patienten und dessen Gesundheitsprobleme auslassen. Der ursprünglich gute Wille einer diagnostikbezogenen Therapie wird so schnell zum Stempel für die Betroffenen.
Ist eine Diagnose gestellt und zur Abrechnung eingereicht, haftet sie am eigenen digitalen Zwilling. Daraus lassen sich über Berechnungsprogramme Zukunftsprognosen abgeben. Schätzwert „Mensch“ im Konglomerat digital erfaßter Daten. Wie hoch ist das Risiko für Krebs, Bluthochdruck, Diabetes mellitus? Wie lang die Lebenserwartung? Und noch viel wichtiger: Wie lange kann man am Arbeitsalltag teilnehmen? Bei manchen Diagnosen klingeln bei den Kassen sofort die „Alarmglocken“, wenn sie sich schlecht einschätzen lassen oder unvorhersehbares beinhalten. So z.B. nach ICD-10, die Klasse nach
F45 „Somatoforme Störungen“. So ist „Das Charakteristikum ... die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen
trotz wiederholter negativer Ergebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründbar sind....“ Fazit: Aufgrund begrenztem Horizont nicht für voll genommen und als uneinschätzbares Risiko deklariert. Also sollte auch jeder Kassenpatient eine Rechnungskopie fordern und Diagnose, sowie Rechnungsstellung hinterfragen.
Aus der Diagnose zur Therapiebasis wird so ganz schnell ein Kassenprogramm in dem offensichtlich nur finanzielle Interessen die Richtung vorgeben. Dies schleicht sich letztendlich auch in die (Kassen-)Arztroutinen ein. Gelernt wird die Diagnoseerhebung mit Anamnese (Gespräch) und IPPAF: Inspektion (Betrachtung), Palpation (Abtasten), Perkussion (Abklopfen), Auskultation (Abhören), Funktionsprüfung. Das Gespräch gestaltet sich nicht sehr lukrativ und enthält, ohne entsprechende Ausbildung, auch kaum verwertbare Informationen, weshalb die apparative und labortechnische Diagnostik in den Vordergrund rückt. Es ist schon keine Science-fiction mehr, dass in vielen großen Kliniken die Diagnose direkt von einem Computer ausgespuckt wird. Mit Speicherchips in Kassenkarten und „fortschrittsweisend“ auch in Smartphones (u.ä.) trägt man seine Krankengeschichte, die die eigene Zukunft bestimmt, mit sich herum.
Der naturheilkundliche Therapeut wird sich immer bemühen möglichst den Menschen wahrzunehmen, um durch den Selben Heilung geschehen zu lassen. Ein bis zwei Stunden Erstanamnese sind keine Seltenheit. Offenheit und Know-How ist gefragt, um den Patienten nicht an die Schublade anzupassen, sondern - wenn überhaupt - die Schublade dem Menschen.